Das Spiegelbild

In der Frühe eile ich mit meinem Einkaufswagen durch die Schiebetüren des großen Supermarktes. Da fällt mein Blick, wie magnetisch angezogen, auf mein Spiegelbild in den Glasscheiben. Unwillkürlich frage ich mich getroffen, bin ich das wirklich?

Heute schaut der Mann, der da schnellen Schrittes auf die gläsernen Türen zujagt, gehetzt aus. Kopf hoch, Augen geradeaus, strebt er mit seinem Einkaufswagen auf den Obst- und Gemüsestand zu. Bestimmt muss das Essen heute früher auf dem Tisch stehen. Aber irgendwie wirkt der Mann recht müde. Wie sieht er überhaupt heute wieder aus? Jedenfalls sollte der Spiegelmann sich eine neue Hose zulegen. Die sieht wirklich aus, als ob sie den Achtziger Jahren entsprungen ist. Eng anliegende Hosenbeine und vor allem im Bund knalleng geschnitten.

Ein Glück bin ich ein guter Kostverwerter. Aber wie lange noch? Sollte ich mir nicht endlich einmal einen anderen Gürtel zu legen? Das ziemlich mächtige Koppelschloss ziert eine Bulldogge. Also, wirklich! Aber unter dem Sweatshirt sieht den doch keiner. Nun ja, wenn ihn denn kein Mensch sehen kann, warum trage ich den Gürtel dann?

Andererseits scheint es so, dass nur mir das auffällt. Keine Seele dreht sich hier im Supermarkt oder sonst wo nach mir um. Oder fällt mein Äußeres allen anderen doch auf? Traut sich keiner mir das zu sagen? Aber ehrlich, will ich das überhaupt hören? „Hallo, Sie da. Sie sind doch kein Teenie mehr!“

Anderseits tragen selbst ältere Männer mit schütterem Haar Basecaps und laufen mit Turnschuhen durch die Gegend. Das Alter macht es also nicht aus. Vielmehr die Art des Auftretens. Ob ich also aufrecht oder mit gebeugtem Rücken und mit hochgezogenen Schultern durch den Alltag gehe. Natürlich sagt auch meine Kleidung etwas über aus.

Doch mal ehrlich. Ab einem gewissen Alter ist der Lack ab. Da hilft auch kein noch so gutes Styling. Muß ich mich jetzt alt fühlen? Das haut irgendwie nicht hin. Denn es kommt auch vor, dass ich mich jünger, wie dreißig oder manchmal sogar wie mit zwanzig Jahren jung fühle. Mit der Bratwurst in der Hand inmitten der Fan-Kurve auf dem Fußballplatz stehend, im Kino mit meiner Frau schluchzend einen Film verfolgend oder mit meinen Kindern mit offenen Augen und Ohren durch den Wald pirschend.

Diese Momente existieren. Woran liegt es also, dass diese so selten an meiner Oberfläche sichtbar werden? Vielleicht daran, dass diese seligen Momente nicht alltäglich sind. Denn, wann nehmen wir uns die Zeit zusammen ins Kino zugehen? Nur wir zwei, ohne die Kinder. Selten, viel zu selten. Im Alltag, den ich abwechselnd am Schreibtisch oder im Haushalt alleine verbringe, bin ich derjenige, der mir mein Spiegelbild liefert. So wie heute Morgen. Aber dieser Mann, der will ich nicht sein, der gefällt mir nicht.

Drum schaue ich morgen nach einer passenden Jeans und einem schmaleren Gürtel um. Gehe in aller Frühe Schaufenster bummeln, was ich schon lange nicht mehr getan habe. Und, wenn ich das nächste Mal in den Spiegel schaue, dann will ich cool bleiben. Mich durch meinen Spiegelmann nicht verunsichern lassen. Denn eines ist mir in diesem Moment des Schreibens klar geworden: Das Leben ist ein Spiegel. Wenn ich hineinlächele, dann lächelt er, mein Spiegelmann, zurück.

Und wenn ich gehetzt und müde aussehe, dann ist es genau so. Dagegen kann ich etwas tun. Und das ist nichts Erschreckendes. Im Gegenteil!

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