Unter dem Pflaumenbaum
Früher Abend gegen 18 Uhr. Endlich weht ein Lüftchen zwischen den Häusern hindurch. Die Schwalben ziehen hoch oben am fast wolkenklaren Himmel freudig ihre Kreise. Einsam und allein hockt ein Mann mittleren Alters auf einer Bank in seinem Garten, wo unzählige Schmetterlinge und Falter zwischen den zahlreichen Lavendelsträuchern hin und her flattern. Kaum bemerkt er einen jungen, stattlichen Mann, der soeben aus dem alten Fachwerkhaus kommt, winkt er diesem und fordert ihn auf neben sich Platz auf der Bank zu nehmen. Offensichtlich ist dieser sein Sohn.
Beide reden kaum ein Wort miteinander. Sie hocken sie, die Füße weit auseinander gestreckt, entspannt nebeneinander. Und doch verrät das Mimenspiel des Vaters, dass ihn etwas beschäftigt. Dies bemerkt auch sein Sohn, der ihn fragt, wo der Schuh drückt. Der Vater antwortet seinem Filius kaum hörbar, blickt aber lange in Richtung ihrer Füße, die auf dem Rasen ruhen.
Dort liegen zahlreiche verschrumpelte Pflaumen, die der Baum offensichtlich wegen der seit zwei Wochen herrschenden Hitzewelle abgestoßen hat. Ein Blick hoch in die Baumkrone genügt um festzustellen, dass die diesjährige Ernte kümmerlich ausfallen wird. „Schade!“, seufzte der Vater, „der Pflaumenbaum war immer der Stolz unserer Nachbarin. Die ruht nun auch schon ein halbes Jahr auf dem Friedhof.“
Der Sohn nimmt nun den Ball auf, den sein Vater ihm hingeworfen hat. „Papa, weißt du noch, was passierte, wenn das Abendläuten zu hören war?“ „Ach ja, egal ob es regnete oder schneite - Schlag 18 Uhr - kam sie mit dem Bimmeln immer auf eine Krücke gestützt, tief gebeugt aus der Garage gehumpelt.“ Wobei sie immer einen Besen hinter sich her zog, den sie sich in ihre freie Hand geklemmt hatte. Damit hat sie den kleinen gepflasterten Weg von der Garage in Richtung des Pflaumenbaums gefegt, der zur Hälfte auf das Nachbargrundstück hinüberragt.
Angesichts der Tatsache, dass ältere, allein stehende Menschen oft sehr auf tägliche, immer wiederkehrende Rituale fixiert sind, kann man sich vorstellen, dass auf diesem kleinen Weg kaum ein Blättchen, ein Steinchen oder sonstige Störelemente zu finden waren. Als ob der Vater diesen Gedanken weiterspinnen will, meint er zu seinem Sohn: „Wie sagte schon Lenin: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Der junge Mann muss lachen. Doch zugleich betont sein Vater, dass die Kontrollgänge der alten Dame einen tieferen Sinn hatten. Denn in früheren Zeiten soll zwischen diesen beiden Grundstück ein Bach hindurch geflossen sein. Im Dorf wird er nur „die Bach“ genannt.
Der Bach ist wie der Mann in der deutschen Sprachlehre männlichen Geschlechtes. Wenn sich nun zu einem Bach ein weiterer Bach gesellt, dann folgt ein Plural, zwei Bäche oder – im Vogelsberg - „die Bach“. Ein Bach wird nach den Worten des Vaters von insgesamt 5 Quellen aus dem nahen Waldstück gespeist und verläuft zwischen ihrem rückwärtigen Garten und dem Nachbargrundstück. Ein weiter Bach, der wie alle Bäche im Ort im Zuge der Flurbereinigung kanalisiert und damit überbaut wurde, fließt aus dem Oberdorf kommend, direkt entlang der Dorfstraße, an der die Hauseingänge beider Grundstücke liegen. „Und bei unserer Nachbarin trifft sich die Bach!“ folgert der pfiffige Sohn, der sich nun das nach starken Regenfällen ausbrechende tiefe Gurgeln im Straßenuntergrund erklären kann. Damit werden ihm auch der Sinn der Kontrollgänge und die damit verbundene Angst der alten Dame vor überlaufenden Kanalschächten deutlich.
Der Vater lacht und erzählt seinem Sohn wo, nach Erzählungen der verstorbenen Nachbarin, die damalige Dorfjugend, die heutigen Alten, an den Brückengeländern über „die Bach“ ihre ersten Turnübungen machten. Zumeist Auf- und Abschwünge, wie am Reck, das sie später im Turnunterricht in der Stadt kennen lernen sollten. So sie das Glück hatten, dort weiterführende Schulen besuchen zu können. Oder aber sie Mitglieder im städtischen Turnverein wurden, der stolzen Turn- und Sportgemeinschaft, kurz „TSG“.
Jetzt erinnert sich der Sohn plötzlich auch an so manche Begegnungen. Mal wie sein Vater mit ihr über Johannisbeeren ausführlich plauderte. Die sollen, so sie reif werden, einen herrlichen Gelee abgeben. Mal über die Wildkirschen am Hang auf beiden Grundstücken. Wobei das Marmelademachen aus Wildkirschen eine saftige Arbeit war, denn die kleinen Wildkirschen müssen zuerst entsteint werden, ehe sie mit Zucker versetzt zu einer außergewöhnlichen Marmelade weiterverarbeitet werden konnten.
Aber, so der Vater, die Nachbarin wollte nicht nur über die Früchte im Sommer sprechen. Auch das aktuelle Tagesgeschehen in der Stadt, in Hessen und im Bund verfolgte sie aufmerksam. „So aufmerksam, dass wir mitunter bis zu einer Stunde angeregt diskutierten.“ Besonders freute den Mann, dass er, der in einer Kleinstadt aufgewachsen ist, von seiner über achtzig jährigen Nachbarin viel von dem für ihn unbekannten Leben auf dem Land in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfuhr.
Somit waren die Gespräche für ihn eine Zeitreise in eine Gegend, die ihm mittlerweile Heimat geworden ist. Der Sohn hakt nach: “Heimat klingt nach Wurzeln. Wo hast du hier - mit Ausnahme unseres Hauses - Wurzeln geschlagen?“ Der Vater überlegt kurz: „ Gemessen an den hiesigen Ansprüchen, in unserem Dorf, sind wir, deine Mutter und ich, hier nicht verwurzelt. Wir sind aus einer Großstadt aufs Land gezogen, waren viel unterwegs und haben daher viel gesehen. Wir haben hier auf dem Land ein Haus gefunden, nachdem wir lange gesucht haben. Das Haus und der Garten ist uns zur Heimat geworden.“
Der Sohn überlegt. „Fehlt da nicht etwas? Nur Haus und Hof ist doch ein bisschen wenig?“ „Stimmt!“, gibt der Vater zurück. „Heimat bedeutet auch Menschen kennen zu lernen, die uns, wie die alte Nachbarin, an ihrem Leben teilhaben lassen.“ Kurze Pause. „Und die uns so akzeptieren, wie wir leben möchten.“ Jetzt gucken sich die beiden in die Augen und lehnen sich entspannt zurück. Für einen Moment herrscht Funkstille. Plötzlich fragt der Sohn: „Und die anderen Menschen, die hier leben?“ Der Vater legt einen Arm um die Schultern seines Sohnes und meint ganz sachlich: „Für die anderen bleiben wir die Fremden!“
Mal ehrlich, wo sind Fremde willkommen?
Beide reden kaum ein Wort miteinander. Sie hocken sie, die Füße weit auseinander gestreckt, entspannt nebeneinander. Und doch verrät das Mimenspiel des Vaters, dass ihn etwas beschäftigt. Dies bemerkt auch sein Sohn, der ihn fragt, wo der Schuh drückt. Der Vater antwortet seinem Filius kaum hörbar, blickt aber lange in Richtung ihrer Füße, die auf dem Rasen ruhen.
Dort liegen zahlreiche verschrumpelte Pflaumen, die der Baum offensichtlich wegen der seit zwei Wochen herrschenden Hitzewelle abgestoßen hat. Ein Blick hoch in die Baumkrone genügt um festzustellen, dass die diesjährige Ernte kümmerlich ausfallen wird. „Schade!“, seufzte der Vater, „der Pflaumenbaum war immer der Stolz unserer Nachbarin. Die ruht nun auch schon ein halbes Jahr auf dem Friedhof.“
Der Sohn nimmt nun den Ball auf, den sein Vater ihm hingeworfen hat. „Papa, weißt du noch, was passierte, wenn das Abendläuten zu hören war?“ „Ach ja, egal ob es regnete oder schneite - Schlag 18 Uhr - kam sie mit dem Bimmeln immer auf eine Krücke gestützt, tief gebeugt aus der Garage gehumpelt.“ Wobei sie immer einen Besen hinter sich her zog, den sie sich in ihre freie Hand geklemmt hatte. Damit hat sie den kleinen gepflasterten Weg von der Garage in Richtung des Pflaumenbaums gefegt, der zur Hälfte auf das Nachbargrundstück hinüberragt.
Angesichts der Tatsache, dass ältere, allein stehende Menschen oft sehr auf tägliche, immer wiederkehrende Rituale fixiert sind, kann man sich vorstellen, dass auf diesem kleinen Weg kaum ein Blättchen, ein Steinchen oder sonstige Störelemente zu finden waren. Als ob der Vater diesen Gedanken weiterspinnen will, meint er zu seinem Sohn: „Wie sagte schon Lenin: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“ Der junge Mann muss lachen. Doch zugleich betont sein Vater, dass die Kontrollgänge der alten Dame einen tieferen Sinn hatten. Denn in früheren Zeiten soll zwischen diesen beiden Grundstück ein Bach hindurch geflossen sein. Im Dorf wird er nur „die Bach“ genannt.
Der Bach ist wie der Mann in der deutschen Sprachlehre männlichen Geschlechtes. Wenn sich nun zu einem Bach ein weiterer Bach gesellt, dann folgt ein Plural, zwei Bäche oder – im Vogelsberg - „die Bach“. Ein Bach wird nach den Worten des Vaters von insgesamt 5 Quellen aus dem nahen Waldstück gespeist und verläuft zwischen ihrem rückwärtigen Garten und dem Nachbargrundstück. Ein weiter Bach, der wie alle Bäche im Ort im Zuge der Flurbereinigung kanalisiert und damit überbaut wurde, fließt aus dem Oberdorf kommend, direkt entlang der Dorfstraße, an der die Hauseingänge beider Grundstücke liegen. „Und bei unserer Nachbarin trifft sich die Bach!“ folgert der pfiffige Sohn, der sich nun das nach starken Regenfällen ausbrechende tiefe Gurgeln im Straßenuntergrund erklären kann. Damit werden ihm auch der Sinn der Kontrollgänge und die damit verbundene Angst der alten Dame vor überlaufenden Kanalschächten deutlich.
Der Vater lacht und erzählt seinem Sohn wo, nach Erzählungen der verstorbenen Nachbarin, die damalige Dorfjugend, die heutigen Alten, an den Brückengeländern über „die Bach“ ihre ersten Turnübungen machten. Zumeist Auf- und Abschwünge, wie am Reck, das sie später im Turnunterricht in der Stadt kennen lernen sollten. So sie das Glück hatten, dort weiterführende Schulen besuchen zu können. Oder aber sie Mitglieder im städtischen Turnverein wurden, der stolzen Turn- und Sportgemeinschaft, kurz „TSG“.
Jetzt erinnert sich der Sohn plötzlich auch an so manche Begegnungen. Mal wie sein Vater mit ihr über Johannisbeeren ausführlich plauderte. Die sollen, so sie reif werden, einen herrlichen Gelee abgeben. Mal über die Wildkirschen am Hang auf beiden Grundstücken. Wobei das Marmelademachen aus Wildkirschen eine saftige Arbeit war, denn die kleinen Wildkirschen müssen zuerst entsteint werden, ehe sie mit Zucker versetzt zu einer außergewöhnlichen Marmelade weiterverarbeitet werden konnten.
Aber, so der Vater, die Nachbarin wollte nicht nur über die Früchte im Sommer sprechen. Auch das aktuelle Tagesgeschehen in der Stadt, in Hessen und im Bund verfolgte sie aufmerksam. „So aufmerksam, dass wir mitunter bis zu einer Stunde angeregt diskutierten.“ Besonders freute den Mann, dass er, der in einer Kleinstadt aufgewachsen ist, von seiner über achtzig jährigen Nachbarin viel von dem für ihn unbekannten Leben auf dem Land in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfuhr.
Somit waren die Gespräche für ihn eine Zeitreise in eine Gegend, die ihm mittlerweile Heimat geworden ist. Der Sohn hakt nach: “Heimat klingt nach Wurzeln. Wo hast du hier - mit Ausnahme unseres Hauses - Wurzeln geschlagen?“ Der Vater überlegt kurz: „ Gemessen an den hiesigen Ansprüchen, in unserem Dorf, sind wir, deine Mutter und ich, hier nicht verwurzelt. Wir sind aus einer Großstadt aufs Land gezogen, waren viel unterwegs und haben daher viel gesehen. Wir haben hier auf dem Land ein Haus gefunden, nachdem wir lange gesucht haben. Das Haus und der Garten ist uns zur Heimat geworden.“
Der Sohn überlegt. „Fehlt da nicht etwas? Nur Haus und Hof ist doch ein bisschen wenig?“ „Stimmt!“, gibt der Vater zurück. „Heimat bedeutet auch Menschen kennen zu lernen, die uns, wie die alte Nachbarin, an ihrem Leben teilhaben lassen.“ Kurze Pause. „Und die uns so akzeptieren, wie wir leben möchten.“ Jetzt gucken sich die beiden in die Augen und lehnen sich entspannt zurück. Für einen Moment herrscht Funkstille. Plötzlich fragt der Sohn: „Und die anderen Menschen, die hier leben?“ Der Vater legt einen Arm um die Schultern seines Sohnes und meint ganz sachlich: „Für die anderen bleiben wir die Fremden!“
Mal ehrlich, wo sind Fremde willkommen?
herrplattezumstein - 25. Jul, 05:59