Der erste Treffer

Neulich Abend. Kurz nach 19 Uhr. Vor der Sporthalle wartete ich im Auto auf unseren Jüngsten, der seit ein paar Wochen regelmäßig zum Fußballtraining geht. Nun, da die Winterzeit begonnen hat, stand für ihn das erste Hallentraining an. Da der Nachwuchsfußballer jeden Moment um die Ecke kommen musste, lauschte ich mit halbem Ohr Bayerns bestem Wetterbericht, als ich aus dem rechten Augenwinkel heraus einen schwarzen Blitz auf mein Auto zustürmen sah.

Ehe ich reagieren konnte, ging auch schon die Wagentüre mit einem Ruck auf. Der geölte Blitz zog den Griff zum Umlegen des Beifahrersitzes energisch noch oben, klappte das Polster nach vorne ab und knallte, knapp neben meinen Einkäufen, seine Sporttasche auf die Rückbank. „Stell dir vor, ich habe heute mein erstes Tor im Verein geschossen!“, sprudelte es aus ihm heraus. Und wenn die Quelle erst einmal am Sprudeln ist, dann halten keine Dämme.

Mit einem lauten Rumms klappte er den Beifahrersitz zurück und hopste auf seine vier Buchstaben. Noch im Anschnallen begriffen, begann er mir zu erzählen, wie er den Ball, aus einem dichten Gewühl vor dem eigenen Tor heraus, zugespielt bekam und über den ganzen Platz aufs gegnerische Tor zujagte. Seine Augen strahlten noch immer, als er mir jeden seiner vier Gegner beschrieb, die sich ihm heldenhaft, aber letzt endlich erfolglos, entgegenstellten.

Nun wurde auch mir warm ums Herz. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn, aus der Tiefe des Raumes kommend, aufs Tor stürmen. Da ließ er, wie einst der ehemalige Schalker Reinhard „Schtenn“ Libuda, jeden seiner Gegner stehen. Links antäuschen, rechts vorbei gehen. Und als er nur noch den aus seinem Kasten herauseilenden Keeper vor sich hatte, da lupfte er, unser Jüngster, den Ball über ihn hinweg. „Alter, ich dachte schon der geht über das Tor!“ Genau wie bei „Schtenn“ Libuda bei seinem berühmtesten Tor, das er im gelb-schwarzen Dress von Borussia Dortmund am 5. Mai 1966 im Endspiel des Europapokals gegen FC Liverpool erzielte, senkte sich die Bogenlampe unseres Jüngsten herab. Sie tropfte so unglücklich gegen den Aluminiumpfosten, dass der Ball von dort aus, wie eine Billardkugel, die hintere Torlinie im vollen Umfang passierte.



„Papa, weißt du noch, wann du im Verein dein erstes Tor geschossen hast!“ Nein, das weiß ich nicht mehr. Zum einen musste ich die ersten Spiele im Verein immer im Tor stehen, denn mein Vater hütete recht erfolgreich in den Fünfziger Jahres das Team des FC Rastatt 04. Zum anderen kam ich dann recht bald in ein Internat, wo mir alles andere, als nach Fußball, der Sinn stand. Später kickte ich dann wieder, aber nicht mehr im Verein, sondern nur noch zum Spaß. Unvergesslich geblieben ist mir jedoch mein Durchbruch als 10 Jähriger Knirps auf dem Gottesacker in unserem Wohnviertel.

Diese Geschichte musste ich meinem Sohn erzählen. Wie immer büxte ich nach dem Mittagessen, ohne Hausaufgaben gemacht zu haben, von zu Hause in Richtung Bolzplatz aus. Dort warteten bereits die anderen Jungs, die es nicht soweit hierher hatten, in einem Halbrund auf die Nachzügler. Und da alle schon nervös mit den Hufen in den Startlöchern scharrten, nutzten sie die Wartezeit mit der Wahl ihres Teams aus.

Na klar, da die Wortführer alle in einem der örtlichen Vereine kickten und zumeist älter und damit körperlich weiter entwickelt waren, waren wir, die Kleinen und Schmächtigen, natürlich nur schmückendes Beiwerk. Quasi waren wir die Lückenbüßer. Entweder wurden wir Kleinen, ähnlich wie die langsamen, dicken Kinder, ins Tor gestellt, oder aber wir durften, wie die Kettenhunde, den besten Gegenspielern nie von der Seite weichen. Was natürlich ziemlich frustrierend war, denn die spielten uns nach Belieben schwindelig.

Bis auf den Tag, als bei mir der Knoten platzte. Plötzlich war es mit dem üblichen Pass durch die Hosenträger vorbei. Plötzlich bekam ich auf einmal schnelle Beine und eine Pferdelunge. Und plötzlich konnte ich auf einmal lange Pässe spielen. Genau auf meine Mitspieler. Ab diesem Tag war ich nicht mehr nur Lückenfüller, sondern ich wurde von nun an – noch auf meinem Weg zum Bolzplatz – in Abwesenheit bereits als feste Größe mit ausgewählt.

Umso größer wurde dann mein Frust im Verein, als ich dort ins Tor abkommandiert wurde. Aber da erging es mir in den wenigen Spielen auch nicht viel besser als Mathias Libuda, dem einzigen Sohn des legendären „Schtenn“. Jedenfalls durfte ich dann raus aufs Feld, wo ich meinen Platz als Abwehrspieler suchte und ihn mir recht bald erkämpfte. Überhaupt war das Kämpfen, das Ackern, das die Linie rauf und runter Rennen und natürlich das nicht von der Seite Weichen, mein Spiel. Das feine Spiel, das Lesen und Dirigieren einer Begegnung, überließ ich gerne anderen.

Kein Wunder also, dass ich mich kaum an ein Spiel erinnern kann, wo ich ein Tor erzielt habe. Als mich mein Jüngster nach diesem Ausflug in meine Jugend fragte, ob ich denn gerne nur der Kettenhund und Ackergaul gewesen war, erzählte ich ihm die Geschichte von Bernd Sobeck, einem Stürmer, der in den Sechziger und Siebziger Jahren bei Tennis-Borussia und Wacker 04 Berlin spielte.

Der hatte einen sauberen Spruch gefunden, um seinem Gegenspieler aus dem Tritt zu bringen. „He, du. Buchstabiere mal Acapulco!“ flüsterte er ihm beim Spiel eins zu eins, Mann gegen Mann, ins Ohr. Der eine oder andere soll dabei tatsächlich ins Überlegen gekommen sein. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, aber genau der Moment reichte Bernd Sobeck, um ihm den Ball abzuluchsen und auf und davon zu ziehen.

Da mussten wir beide lachen und freuen uns schon heute aufs nächste Training. Mal sehen, ob die Jungs in seinem Verein buchstabieren können.

Suche

 

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Der Selbstmord der Presse
„Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden wir vor Ort...
herrplattezumstein - 3. Jul, 19:42
Erwartungen
In diesem Jahr schenkte mir unser jüngster Sohn die...
herrplattezumstein - 2. Dez, 20:49
Hätte, wenn und aber...
Hallo Schlafmütze, jetzt bin ich sehr gerührt. Vielen...
herrplattezumstein - 21. Okt, 12:28
Eine unscheibare Dose...
Hallo Schlafmütze, auch wenn die Welt manchmal zum...
herrplattezumstein - 21. Okt, 12:18
Hallo HerrPlattezumStein
Wo hast du denn das Video ausgegraben? *lach* Was...
schlafmuetze - 14. Okt, 21:43

Links

Status

Online seit 5365 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 3. Jul, 19:44

Credits


Abseits
Auswärts
Ballaballa
Einwurf
Männerwelten
Tagwerk
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren