Der letzte Gang

Jeden Abend das gleiche Spiel. Anna, unsere Zwergdackeline, muss noch einmal vor die Türe. Kaum habe ich meine Schuhe und meine Jacke angezogen und den Schlüssel laut rasselnd eingesteckt, steht sie auch schon Schwanz wedelnd vor der Hoftüre. Sie will unbedingt raus. Sie zum letzten Pinkelgang, ich will mein letztes Rauchopfer geben.

Fast immer flitzt sie auf ihren kleinen Füßchen schnurstracks in Richtung „ihres“ Hauses. Immer die Nase am Boden, immer auf der Suche nach Düften schwenkt sie dabei ihren spitzen, lang gezogenen Riechkolben im Wechsel nach rechts und links. An der Hausecke angekommen, schnüffelt sie die Ecke, von unten nach oben mit immer länger werdendem Hals, weitläufig nach Duftmarken ab. Oder wie wir sagen: Anna liest ihre E-Mails. Das dauert natürlich seine Zeit.

So stecke ich mir erstmal eine Zigarette an und gehe meines Weges in Richtung des Waldes. Kaum habe ich die letzte Laterne erreicht, drehe ich mich immer noch einmal nach unserem Hund um. Wo bleibt die Anna wieder? Da kommt sie schon. Immer die Nase am Boden, wobei sie natürlich, je nachdem wie die Spur verläuft, die sie gerade aufgenommen hat, ganz unvermittelt die Straßenseiten wechselt. Immer der Nase lang.

Derweil stehe ich meist im kalten Licht der Laterne und lausche dem Plätschern und Glucksen des vorbeiziehenden Baches. Noch ein kurzer Pfiff und die Dackeline kommt nun eilig in kurzen und sehr schnellen Tritten, taps, taps, taps, herangetrabt. Doch kaum hat sie mich erreicht, geht die Nase wieder mit ihr durch. In Richtung des Schafstalles, der sich an das letzte Haus vor dem Waldrand anreiht. Besonders im Winter, wenn alle Schafe hier einstehen, verweilt sie hier immer eine Weile. Meistens auf der Suche nach frischen Schafsköddeln, währenddessen ich dem Treiben im Stall lausche. Hier will immer ein Schaf, wie 12 Jährige in einem Schlafsaal in einer Jugendherberge, das letzte Wort haben. Aber wir haben ja Ende September, da stehen die Schafe noch für ein paar Wochen irgendwo auf den umliegenden Wiesen dieses kleinen Tals.

Mittlerweile haben sich meine Augen an die Dunkelheit langsam gewöhnt. Festen Schrittes folge ich dem Teerweg, dessen Konturen sich in der Finsternis kaum erkennen lassen. Wo ist die Anna schon wieder? Egal, bestimmt wird sie pinkeln oder vertrocknete Nachtschnecken auf dem Weg fressen. Aber was ist das? Da war doch ein leises Schnauben? Jetzt schon wieder. Und es, nein sie, es sind mindestens zwei Tiere, kommen mit lauten, harten Schritten näher. Ach so! Es sind nur die beiden Pferde, die seit ein paar Tagen auf ihrer Koppel stehen. Und weiter geht es an der in der Dunkelheit silbern schimmernden Birke vorbei.

Was für ein Sternenhimmel. Und jedes Mal, wenn ich versuche die wenigen Sternenbilder, die ich kenne, zu bestimmen, überkommt mich ein unbestimmtes Glücksgefühl. Es hat mit Grenzenlosigkeit zu tun. Als ob ich durch Raum und Zeit schwebe. Wobei ich mich auf meiner Reise lediglich an den leuchtenden Sternenbildern zu orientieren habe.

Doch zurück auf die Erde. Zu Anna und mir. Mittlerweile habe ich die zweite Zigarette geraucht. Habe den Tag im Geiste Revue passieren lassen, freue mich auf die warme Stube und auf ein Glas Wein. Anna wiederum ist froh, wenn ich von meinem Sterneausflug zu ihr zurückkomme. Denn weiter als bis zur Birke will sie in dieser Finsternis nicht mehr.

Und so sitzt sie hier, jeden Abend, und wartet geduldig bis ihr Herrchen endlich von seinem Gang zurückkommt. Gemeinsam dackeln wir beide dann schnellen Fußes nach Hause zurück. Morgen ist auch wieder ein Tag!

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