Ein erster Schritt

Ein grauslicher Novemberabend. Eisig kalt. Seit Stunden treibt ein heftiger Wind dicke Regentropfen vor sich her. Ein Wetter, wo man selbst einen Hund nicht vor die Türe jagt. Geschweige denn will man ins Auto steigen, um sich gleich auf der kurvenreichen, regennassen Landstraße in die Stadt zu quälen. Aber dort wartet ein besonderer Abend. Eine Lesung mit Harry Rowohlt.

Schon eine halbe Stunde vor Öffnung des Kellers - wo in einer Bischofsstadt kann ein bekennender Linker auch anders lesen, als im Untergrund – drängen die erwartungsvollen Zuhörer, zumeist grauhaarige Menschen, Alt 68er, mit Regenschirm bewaffnet und im Dufflecoat oder Parka gewandet, durch die rettende Eingangstüre ins Obergeschoß des Veranstaltungsgewölbes. Nur Harry Rowohlt steht etwas abseits rauchend in einer der zugigen Ecken des Innenhofes und zieht einsam und alleine genüsslich an seiner Zigarette.

Natürlich wird er an diesem Abend wieder einige Passagen seiner über 160 Übersetzungen britischer, irischer oder amerikanischer Schriftsteller vortragen. Natürlich wird das Ehrenmitglied des FC St.Pauli auch eigene Kolumnen aus der „Zeit“ oder dem „Tagesanzeiger“ zum Besten geben. Und natürlich wird Harry Rowohlt seine Lesung an den unterschiedlichsten Stellen unterbrechen. Platz für Kommentare, Räume für abschweifende Bemerkungen, Anekdoten, autobiografische Erzählungen und natürlich um Dialoge mit seinem Publikum zu halten.



Früher nannte er seine Lesungen nicht umsonst „Schausaufen mit Betonung“, da er, der Botschafter des irischen Whiskeys, während der Lesung ordentlich zum Glas mit einem bestimmten geistigen Getränk griff. Ja, früher war alles anders. Heute bleibt ihm, seiner Polyneuropathie, einer Erkrankung des peripheren Nervensystems, geschuldet, einfaches, ordinäres Mineralwasser.

Aber egal, ob es in seinem Glas sprudelt oder bernsteinfarben, zähflüssig schwimmt, seiner tiefen, dunklen Stimme tut das kein Abbruch. Unvergleichlich, eben Harry Rowohlt, bleibt seine Ausstrahlung. Sowohl die seiner Stimme, als auch die seiner Person, die einsam und alleine auf einem Stuhl vor einem kleinen Tischchen auf der spärlich beleuchteten Bühne hockt. Mal fletzt er mit weit ausgestreckten Beinen auf seinem Stuhl, mal sitzt er aufrecht. Angespannt mit durchgestrecktem Rücken. Immer den Blick auf sein Blatt in den Händen gerichtet.

Bei aller Leichtigkeit, mit der er seine Werke vorträgt, genügt jedoch ein Blick unter den Tisch auf seine Beine, um zu sehen, wie schwer Harry Rowohlt dabei arbeitet. Sie sind immer in Bewegung. Mal wippen sie im Takt seiner Stimme, mal beginnen sie fortzulaufen, mal ruhen sie, scheinbar regungslos von sich gestreckt, auf dem Podestboden. Doch sofort beginnen die in braunen Stiefeletten steckenden Füße sich im Gelenk zu drehen. Der Mensch hat Hummeln im Arsch! Aber genau diese den ganzen Körper ergreifende Hingabe braucht es, um den Hörer zu fangen und ihn bis zum Schluss bei der Stange zu halten.

Noch im Auto auf der Heimfahrt spüre ich, wie nachhaltig Harry Rowohlt mich in seinem Netz gefangen hält. Wann fange ich an vorzulesen? Was hindert mich daran? Habe ich nicht auch Geschichten zu erzählen? Klar bin ich kein Harry Rowohlt und kann nicht auf einen solchen Fundus, auf solch ein bewegtes Leben, zurückgreifen. Aber ich habe eine Stimme.

Zuhause angekommen, sitze ich noch eine Weile am Küchentisch und sinniere vor mich hin. Ein letzter tiefer Blick beim Zähneputzen in den Spiegel genügt. Ich sehe mein Gegenüber im Spiegel. Er zwinkert mir zu, lässt noch einmal sein Zahnputzglas voll Wasser laufen, nimmt einen tiefen Schluck daraus und beginnt aus vollstem Herzen zu gurgeln.
Ich bin entschlossen. Ein erster Schritt ist gemacht!

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