Ein Zug, einmal in Fahrt, ist kaum zu stoppen

Kurz vor sechs Uhr in der Frühe. Mitte letzter Woche. Eigentlich will ich liegen bleiben, aber ich muss ich raus aus den Federn. Mal sehen, was das Radio spricht. Eurokrise, Verfassungsschutz, Wulf. Grund genug mich wieder in meine noch warme Decke zu verziehen. Da ertönt mit sonorer Stimme eine Ankündigung über einen Beitrag aus der Reihe: „Bayern, Deine Bahnhöfe“. Um Viertel vor Sieben soll der Bahnhof Lindau vorgestellt werden. Mensch, den kenne ich doch. Um den gibt es doch seit Jahren heftige Auseinandersetzungen. Ein kurzer Blick auf die Uhr, raus aus den Federn und ab unter die Dusche.

Kaum in den Kleidern, wird auch schon das gute Stück im Radio vorgestellt. Und sogleich sehe ich vor meinem geistigen Auge das gute alte Stück auf der Hinteren Insel mit seinen weiträumigen Gleisanlagen vor mir. Reichlich in die Jahre gekommen, aber dennoch diesen Teil der Stadt im See prägend. Zu diesem vor sich hindämmerten Schmuckstück aus den Anfangsjahren der Eisenbahn der Beitrag zum Nachhören.

Da war doch noch etwas! Eine Reisende spricht von der geplanten Verlegung des Inselbahnhofs auf das Festland. Da diese Spur im Beitrag nicht weiter verfolgt wird, mache ich mich im Netz auf zur weiteren Spurensuche. Und siehe da, bei der Lindauer Zeitung werde ich fündig. Hier erscheint am gleichen Tag – parallel zur Ausstrahlung des Radiobeitrages auf BR2 – ein Artikel mit dem aufschlussreichen Titel: „Es hakt und klemmt, wenn die Lindauer die Weichen stellen“.

Wie bitte? Da stimmen am 11. Dezember letzten Jahres die Lindauer mit über 60 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Kompromisslösung, also für die Beibehaltung des Inselbahnhofs und für den Neubau eines Bahnhofs auf dem Festland. Der Tag nach dem Bürgerentscheid im Bayerischen Fernsehen

Und was passiert? Der CSU Kandidat für die am 12. Februar 2012 stattfindende Oberbürgermeisterwahl greift tief in die Trickkiste. Zwei Tage nach der deutlichen Abstimmungsniederlage peitscht er im Stadtrat - mit der sicheren CSU Mehrheit im Rücken – einen abermaligen Bürgerentscheid: „Pro Bahnhof Festland, Schließung des Inselbahnhofs“ durch. Neuer Abstimmungstermin: 18 März 2012.

Allerdings zieht der CSU Oberbürgermeisterkandidat kurz vor Weihnachten seine Kandidatur für die OB Wahl zurück. Und die CSU? Sie zaubert wie aus dem Nichts einen neuen Kandidaten aus dem Hut. Da soll doch mal einer sagen, dass in Lindau nichts los ist. Es bleibt spannend! Zumal, so der Eindruck der Lindauer Zeitung, es bisher keinem der vier Bewerber gelungen ist, sich als klarer Favorit für dieses Amt zu präsentieren.

Im Geist verlasse ich jetzt den Bahnhof und das Gezerre um seine Zukunft. Ich trete auf den Bahnhofsvorplatz, laufe die Ludwigstraße hinunter und betrete die Weinstube: „Zur Fischerin“. Sogleich bestelle ich ein Viertele und einen Käsesalat. Während ich auf meine Bestellung warte, kommt mir die alte Geschichte von Franz-Josef Strauß und der „Fischerin“ in den Sinn, die mir vor Jahren ein alter Lindauer zu vorgerückter Stunde erzählt hat. Selbst der SPIEGEL berichtet damals über diese Lindauer Geschichte.

Im Jahr 1961 erfährt FJS, damaliger Verteidigungsminister auf der Bonner Hardthöhe, dass im bayrischen Lindau ein kecker Pinselschwenker und eine musenfreundliche Wirtin, „die Fischerin“, seine Person in der Öffentlichkeit bloßstellen würden. Stein des Anstoßes ist ein 90 x 60 Zentimeter großes Ölgemälde auf einem Pappendeckel. Es zeigt einen wohlbeleibten Metzger beim Schlachten. Ach ja, der Vater von Franz Josef Strauß war Metzger. Aber muss denn jeder dicke Mann Ähnlichkeiten mit dem sonst so gemütlich wirkenden Herrn Verteidigungsminister haben? Strauß ist eine solche Frage fremd. Er erstattet vor dem Amtsgericht Strafanzeige. Doch genützt hat es ihm nicht. Der Pinselschwinger, ein junger Erlanger Künstler, und die „Fischerin“ gingen straffrei aus dem Gerichtssaal.

Und wie so oft erlebe ich, dass scheinbar nebensächliche Nachrichten alles andere als uninteressant sind. Sie fördern oftmals einen bunten Reigen von Erinnerungen hervor. Oder wecken Assoziationen, die so herrlich schräg, aber doch aus dem prallen Leben gegriffen sind.

Wie ein Zug, der einmal in Fahrt gesetzt, kaum noch zu stoppen ist.

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