Last mit unterschiedlichen Proportionen und Ebenen

Was hat ein Vogel mit einem Menschen gemein? Nichts, genau so wenig, wie ein Fisch mit einem Fahrrad. Und doch gerate ich in Wallung, wenn ich eine dicke, fette Amsel oder einen nicht minder wohlproportionierten Eichelhäher in unserem Vogelhäuschen auf dem Balkon entdecke.

Es ist immer das gleiche Bild. Sobald ich sie entdecke, hüpfen sie, noch schnell das letzte Körnchen Futter im Schnabel in sich hineinstopfend, ganz aufgeregt, die Flügel schon bereit zum Schlagen, in Richtung Rand des Häuschens. Jedes Mal überkommt mich dabei der kalte Zorn. Denn zum einen vermitteln sie mir dabei das Gefühl, als hätte ich sie beim nächtlichen Plündern ihres Kühlschranks ertappt. Zum anderen habe ich Angst, dass sie, wie die vom Fuchs aufgescheuchten Hühner, vor lauter Panik über ihre schlanken Beine fallen und sich somit ihren schweren Körper verletzen können.

Dabei flüchten auch alle übrigen Feld-, Wald- und Wiesenvögel, wenn sie mich hinter der Glasscheibe entdecken. Egal, ob es sich dabei um die grazile, unerschrockene Tannenmeise, die aufmüpfige, immer in großer Zahl präsente Kohlmeise oder um den ebenfalls immer im Pulk vertretenden, frechen Sperling handelt. Immer spritzen sie auf und verlassen fluchtartig das Häuschen. Doch bei ihnen wirkt alles anders.
Dies beginnt schon beim Anflug auf das Vogelhäuschen. Während die fette Amsel mit einem schweren Plumps auf dem metallenen Rand des Balkons anlandet und von dort aus ebenso schwerfällig hüpfend ins Vogelhäuschen übersetzt, fliegen die kleinen schmalen Portionen, wie die Meisen, Sperlinge, Girlitze oder Rotkehlchen, direkt den Futterplatz an. Und damit zum Essverhalten.

Während der vollschlanke und überdimensionierte Eichelhäher einsam und alleine, dick und fett über den Körner pickend, hockt, machen sich sonst Heerscharen von Meisen, Spatzen und Girlitze gemeinsam nebeneinander gedrängt über ihr Futter her. Während die kleine Tannenmeise bereits nach einmal Picken das Feld in Richtung der den Balkon benachbarten Bäumen und Sträuchern verlässt, gönnen sich die Kohlmeise und der gemeine Sperling in der Regel mehrere Körner auf einmal. Nicht zuletzt geht es dabei gesittet zu. Kein gieriges Schlingen und keine Kämpfe um die besten Futterplätze. Jeder verlässt das Häuschen nach einiger Zeit, fliegt in Richtung umgebender Äste ab und vertilgt dort seine nährende Fracht.

Und die dicken und fetten Vögel. Die stopfen in sich hinein, was rein geht. Besonders die beiden Eichelhäherpaare, die seit Ende November Zaungäste in unserem Vogelhäuschen sind. Kraft ihrer Leibesfülle verdrängen sie dabei natürlich die anderen Vögel, die auf ihren Sitzplätzen in den umgebenden Bäumen nur darauf warten, dass die dicken Brocken, einer nach dem anderen, endlich den Hals voll genug bekommen. Da regt sich in mir der heilige Gerechtigkeitssinn. Warum können diese Wänste nicht auch einmal Platz für die kleinen Kerlchen machen? Schließlich ist doch genug Futter für alle da. Bisher musste bei uns noch kein Vogel hungern.

Habe ich etwas gegen große, plumpe Vögel? Jein. Klar haben auch sie ihr Recht auf ihre Portion. Nur nicht den ganzen, lieben langen Tag über. Selbst wenn ich, wie im letzten Jahr neben dem Vogelhäuschen einen zweiten Futterplatz eröffne, verdrängen auch hier die größeren die kleineren Vögel. So zum Beispiel unser grimmiges Kleiberpärchen, das wegen der im letzten Jahr bei uns weilenden Staren vom Vogelhäuschen reißaus nahm und sich ihr Futter am neu eröffneten Platz holte. Nur dort hingen die beiden oft wie die Kletten an dem hängenden Drahtkörbchen, dass die Futtermischung enthält. Mit der Konsequenz, dass Spatz, Meise und Co. abermals in die viel gescholtene Röhre gucken mussten.

Also, was tun? Zuschauen und der Natur ihren Lauf lassen. Noch dazu, dass die plumpen Vögel in ihrer eigentlichen Umgebung alles andere als aus dem Leim gegangen wirken. Hier passen sie hinein, denn sie sind ja nicht wirklich übergewichtig. Sie passen lediglich von ihrer Körpergröße nicht in unser Vogelhäuschen. So wie die Amsel. Was gibt es schöneres, als eine Amsel am frühen Sommermorgen, auf dem Gartenzaun hockend, ihr Liedchen aus voller Kehle schmetternd zu hören. Da geht mir immer wieder aufs Neue das Herz sperrangelweit auf. Jedes Mal kommt mir bei dieser Szene Cat Stevens und an sein Lied „Morning has broken“ ins Ohr. Also, warum überkommt mich im Winter am Vogelhäuschen immer wieder der Zorn des Gerechten?

Es ist die von den großen, plumpen Vögeln an den Tag gelegte Gier, die im vergleichsweise schmalen Vogelhäuschen zu Tage tritt. Klar, dass sie bei klirrender Kälte Futter begehren. Klar auch, dass sie ihre größeren Mägen voll schlagen müssen. Aber muß ich tolerieren, dass sie in ihrer grenzenlosen Begierde allen trügerischen Ballast über Bord werfen?
Genauso wenig wie ich gierige Menschen ausstehen kann, die alles Essbare ohne Hemmungen in ihren Hals stopfen oder jeden Vorteil in klingende Münzen verwandeln wollen. Und hier genau an dieser Stelle, zeigt sich die Last mit den Proportionen und Ebenen. Ein Vogel, egal ob dick oder dünn, klein oder groß, bleibt ein Vogel. Er ist kein menschliches Wesen und somit auch nicht an den Wertvorstellungen zumessen, die ich an eine funktionierende Gemeinschaft stelle.

Daher werde ich die dicken Vögel weiterhin füttern, auch wenn sie mich noch das ein oder andere Mal tierisch auf die Palme bringen werden.


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