Wegweiser

Donnerstag, Fronleichnam, irgendwo auf einem Radweg. „Schau, da das Schild!“ Es zeigt in Richtung eines Dorfes und verheißt „Würstchen und Getränke. Ab 15 Uhr 30 Kaffee und Kuchen“. Kein Datum, kein Nichts.

Doch uns knurrt der Magen und das Dorf liegt direkt am Weg. Also verlassen wir den Radweg und biegen auf eine asphaltierte Fahrstraße ein. Je näher wir unserem Zwischenstopp kommen, desto stärker wird unsere Neugier. Die ersten Häuser und die im Hintergrund auftauchende Dorfkirche wirken recht idyllisch.

Kaum rollen wir an den ersten stattlichen Bauerngehöften vorbei, da hören wir Hühner gackern, Tauben gurren, Hunde bellen und sehen eine Katze den asphaltierten Fahrweg überqueren. Aber wir suchen vergeblich eine Menschenseele auf der Gasse. Bestimmt sind die da versammelt, wo es Essen und Trinken geben soll. Doch, wo?

Die Hauptstraße, eine stark befahrene Landstraße, die den Ort offensichtlich teilt, haben wir schnell erreicht. Wo sind die Bewohner, wo die Gäste? Da vorn ist eine Bushaltestelle. Hinter der Bushaltestelle steht eine große Scheune, daneben das kleine Feuerwehrgerätehaus, woran sich das noch kleinere Backhaus anlehnt. Davor stehen einige Bänke und Tische, die von zahlreichen Menschen in Beschlag genommen sind. Über allem liegt der Duft von Bratwürstchen und Steaks, der vom Grill herüberweht.

Auf den ersten Blick ist hier schwer eine Ordnung zu erkennen. Doch je länger wir die Szene beobachten, desto deutlicher wird uns, dass hier sich alle kennen und somit alles seinen gewohnten Gang nimmt. Einige junge Männer und Frauen laufen ständig mit Körbchen voller Getränken zwischen dem großen Schuppen und den Tischen hin und her. Kaum haben sie den Nachschub abgeliefert, da sammeln sie auch schon das Leergut auf den Tischen wieder ein und verschwinden in Richtung der großen, ziemlich düster wirkenden Scheune. Oder sie nehmen Kurs auf den Grill. Dort holen sie sich die Bestellungen, die für die Gäste bestimmt sind, und ziehen weiter ihres Weges zwischen Vorplatz und Scheune.

Da wir noch keinen Platz gefunden haben, beschließen wir uns aufzuteilen. Meine Frau geht zum Grill und wir Männer suchen einen Platz, von wo aus wir unsere Bestellung für die Getränke aufgeben können. Drinnen in der Scheune herrscht eine ungemütliche Atmosphäre. Laut und vor allem schummrig ist es hier drinnen. Die Gäste hocken dicht gedrängt beieinander und lassen es sich gut gehen. So gut, dass sich offensichtlich niemand an dem Durchzug und dem Dämmerlicht stört.

Hier bleiben wir nicht. Schon gar nicht am hellerlichten Tag und bei strahlendem Sonnenschein. So steuern wir wieder nach draußen und finden schließlich einen Platz unter einem dieser Schirmständer, die auch als Stehtheken gedacht sind. Die Würste und das Steak samt Pommes schmecken auch im Stehen gut. Was wollen wir mehr?

Als ob ein älterer Mann, der sich mittlerweile zu uns gestellt hat, diese Frage spürt, fragt er uns, wie es uns hier gefällt. Was soll man da bloß antworten? Schließlich sind wir mit unseren Rädern lediglich auf Entdeckertour. Klar. Wir wollen unseren Hunger stillen und dabei noch einen Hauch von Land und Leute erleben. Und schon erzählt der alte Mann uns von seinem Dorf.

Davon, dass es entlang der heute leider stark befahrenen Landstraße schon seit ewigen Zeiten zwei Dorfhälften gibt. Das Unterdorf, das sich mit seinen Gehöften in Richtung des Flüsschens erstreckt und das Oberdorf. Dabei zeigt er in Richtung der Wälder, die oberhalb des Ortes liegen. Hier lebten früher Tagelöhner, Waldarbeiter, Kleinbauern und Handwerker. Während im Unterdorf die Heimat der reichen Großbauern war.

Auf einmal bekommt dieser kleine Ort, in dem – so unser Erzähler – heute rund 300 Seelen leben, schärfere Konturen. Der Mann zeigt in die Richtung, aus der wir mit unseren Rädern kamen. Da lag noch vor dem Krieg die alte Straße, an der viele Kleinbauern aus dem Dorf ihre Äcker und Wiesen hatten und auf der heute der Radweg entlang läuft.

Ein idyllisches Bild. Der kleine Fluss, der entlang des Radweges verläuft, mäandert in großen Bögen, mal rechts, mal links, gemächlich dahin. Sein Bett ist auf weiten Strecken von einem dichten Schilfgürtel umgeben. Ab und an stehen dazwischen in Gruppen mächtige Weiden und Pappeln. Dahinter liegen großen Wiesen, auf denen die ein oder andere Gruppe Rinder zu erkennen sind.

Ein Postkartenmotiv, zutiefst beschaulich und friedlich. Eine scheinbar heile Welt. Möchte ich hier wohnen und hier in dieser Gemeinschaft leben? Um mich von diesem Gedankenspiel abzulenken, erkundige ich mich bei unserem Stehnachbarn nach dem unorthodoxen Schild auf dem Radweg. „Das hängen wir immer zu Fronleichnam, in jedem Jahr, zu unserem Fest dahin!“, antwortet er aus tiefster Überzeugung. Mit Blick auf uns fügt er hinzu, dass unser Abstecher beweist, dass das Schild richtig hängt.

Da hat er scheinbar Recht. Unseren Hunger sind wir los, aber ob wir den Weg im nächsten Jahr wieder hierher finden, steht auf einem anderen Blatt. Was wird hier überhaupt für ein Fest gefeiert? Fronleichnam? Gibt es hier eine Prozession zu bewundern? Wirklich gastlich ist es weder hier an der Straße, noch im düsteren Schuppen.

Auf unserer Radltour haben wir entdeckt, dass es entlang der Strecke zahlreiche Postkartenidylle gibt. Sie findet sich überall entlang des Weges. Man muss nur die Augen offen halten und viel Zeit und noch mehr Muse mitbringen.

Heute, drei Tage später, auf dem Rückweg hängt das Schild nahe dem Dorf noch immer. Preisfrage: Gibt es hier an der Hauptstraße noch immer zu Essen und Trinken?

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