Zeitreise - 2 -

Mit einer dampfenden Kaffeetasse stehe ich heute Früh in meinem Nachthemd auf dem Balkon. Plötzlich fühle ich wärmende Sonnenstrahlen auf meiner Glatze. Welch ein wohltuendes Gefühl! Um mich herum zwitschern die Vögel auf den Bäumen und im Hintergrund murmelt aus einiger Entfernung eine männliche Stimme aus dem Radio. Heute ist Donnerstag, der 25. April!

Moment mal! Da ist doch, aber was? Obwohl mir jetzt auf dem Balkon langsam die morgendliche Kühle an den nackten Beinen unter meinem Nachthemd empor kriecht, bleibe ich. Ich beginne mit meinem inneren Auge in meinen ganz persönlichen Kalender herum zublättern. Richtig, am 25. April 1974 putschten in Portugal aufständische Militäreinheiten die dortige Junta aus dem Amt und beendeten damit die am längsten andauernde Diktatur Europas. Und im gleichen Sommer wollten meine Mutter und ich 14 Tage an die Algarve fliegen.

Unter der warmen Dusche beginnen sich die Erinnerungen an Portugal, seinen Militärputsch, die damit ausgelöste Ausbruchstimmung im Land und natürlich an unseren Urlaub zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Es beginnt wie alles mit lauter Nebensächlichkeiten. Allerdings, bei Licht betrachtet, sind es diese, die das Salz in der Suppe ausmachen. So sitzen am Samstagabend, den 6. April 1974, meine Familie und ich vor der Glotze und verfolgen alle mehr oder weniger gespannt den 19. Eurovision Song Contest, der aus dem englischen Seebad Brighton europaweit übertragen wird. Als am Ende der insgesamt 14 Vorträge der Beitrag aus Portugal angekündigt, werde ich, der die bisherigen Lieder ziemlich gelangweilt mitverfolgt hat, mit einem Mal munter.

Ein kleiner, schmächtig wirkender Sänger, Paulo de Carvalho, betritt die riesige Bühne. Er trägt einen dunkelblauen Anzug und wirkt von Beginn nervös und hüftsteif. Kaum einmal bewegt er sich. Erst gegen Ende seines Beitrages „E depois do adeus“ – deutsch; „Nach dem Abschied“ - gewinnt seine Stimme an Fahrt und damit auch an Ausdruck. Höhepunkt und zugleich Schlusspunkt seines Vortrages ist der letzte Takt. Hier reißt der damals 27 jährige Paulo de Carvalho seine beiden Hände in Richtung der Decke hoch, wirft sie nach hinten zurück und verneigt sich zugleich tief nach vorne in Richtung des Publikums.



Dass das Lied, nach Meinung der Kommentatoren, nach dem üblichen Muster der Unterhaltungsmusik gestrickt war, will ich nicht leugnen. Allerdings braucht es sich, im Vergleich zu den anderen Teilnehmern, u.a. Cindy und Bert, Ireen Sheer, Olivia Newton-John oder Mouth & McNeal, die holländische Antwort auf Middel-of-the Road“, nicht zu verstecken. Vor allem nicht, wenn ich mir die damaligen bundesdeutschen Charts des Jahres 1974 anschaue. Da finde ich u.a. Sweet, Osmonds, Three Degrees, Mud, The Rubettes und The Hollies. Nicht zu vergessen Alt-Bundespräsident Walter Scheel und der Düsseldorfer Männergesangverein. Sie belegen mit ihrer Schmonzette „Hoch auf dem gelben Wagen“ immerhin im Februar 1974 den 9. Platz in der Deutschen Hitparade. Auf jeden Fall belegt Paulo de Carvallo beim 19. Eurovision Song Contest zusammen mit den deutschen Vertretern Cindy& Bert und der Schweizerin Piera Martell die letzten drei Plätze. Gewinner des Abends ist ABBA mit „Waterloo“.

Doch 18 Tage später, am Abend des 24. April 1974 um 22 Uhr 55, wird das vermeintlich „verwaschene“ Lied für Brighton von Radio Lissabon als verabredetes Aufbruchssignal für die aufständischen Truppen der portugiesischen Armee durch den Äther hinaus in den Abend geschickt. Um 20 Minuten nach Mitternacht unterbricht der Nachtmoderator das laufende Programm seines Senders, der katholischen Rundfunkstation Rádio Renascença.

Er liest die erste Strophe des in der Diktatur verbotenen Liedes „Grândola, vila morena“ vor. Anschließend legt er die Platte in der Originalversion gesungen von dem oppositionellen Musiker Jose Afonso, genannt Zeca, auf. Dies ist das Zeichen für die verschiedenen Einheiten des zum Putsch bereiten Militärs, dem Movimento das Forças Armadas. Kurz MFA, was übersetzt „Bewegung der Streitkräfte“ heißt . Zugleich, da der Radiosender wenige Minuten vor dem Abspielen des Liedes von einer Militäreinheit gestürmt wurde, wissen die anderen Einheiten nun, dass alle Ausgangsstellungen wie geplant bezogen sind. Der Putsch ist nun ins Rollen gekommen. Am Abend ist die älteste Diktatur Europas nach mehr als 45 Jahren Makulatur.

Dass meine Mutter unseren Urlaub nicht zur Makulatur werden ließ, wissen die Götter. Okay, die Reiserücktrittsversicherung gab es auch noch. Auf jeden Fall packen wir unsere Koffer und fliegen an die Algarve. Vom ersten bis zum letzten Tag verbringen wir beide dort einen der schönsten Urlaube an die ich mich erinnern kann. Das A und O ist – aus heutiger Sicht – mein Versprechen gewesen, mich vor Ort niemals in unüberschaubare Situationen zu begeben. Daran habe ich mich auch gehalten. Dass Schöne an diesem Versprechen war aber, dass es überflüssig war. Die Stimmung im Land war von dem Aufbruch in eine neue Zeitrechnung geprägt. Es schien, dass nun die angestaute Luft unter dem seit 1926 geschlossenen Deckel über Portugal entweichen konnte. Aber nicht mit einem Schlag, sondern, wie unter Muttern´s altem Dampfkochtopf, kontrolliert. Überall, ob am Flughafen in Faro oder im Stadtzenrum von Portimaö, der zweit größten Stadt der Provinz Algarve, wo wir unseren 14 tägigen Urlaub verbrachten, am Hafen oder vor dem Fußballstadion, kamen Menschen zusammen, redeten und diskutierten miteinander oder sie versammelten sich zu Demonstrationszügen bzw. zu Kundgebungen.



Das ganze Ausmaß dieses Treibens auf den Straßen erschloss sich aber nur dem Urlauber, der seine Augen und Ohren dafür offen hatte. Ich hatte das Glück, dass ich einen jungen Mann im Hotel kennen gelernt habe, der dort als Kellner in den Sommermonaten arbeitete. João studierte an der Universität der Algarve in Faro, der Provinzhauptstadt, Wirtschaftswissenschaften, Daher sprach er auch ein sehr viel besseres Englisch als ich. Über ihn, seine Freunde und seine Familie erfuhr ich, wie sehr das Gros der Menschen von der Diktatur klein gehalten wurde. Bis in die Sechziger Jahre hinein konnte ein Drittel der Bevölkerung Portugals weder Lesen noch Schreiben. Und dass, obwohl es in Portugal eine vierjährige Grundschule für das gemeine Volk gegeben hat. Der Haken daran ist, dass es keine allgemeine Schulpflicht gegeben hat. Das führte in den ärmeren Gegenden dazu, dass die Kinder dort eher zur Arbeit auf die Felder geschickt wurden, als in die Schulen.

Daneben glich das Öffentliche Leben in Zeiten der Diktatur wie das auf einem herrschaftlichen Landgut. Hier hatte nur der Großgrundbesitzer das Sagen. Ihm unterstand das Heer von Mägden und Knechten. Das Gesinde war ihm zu Diensten verpflichtet und dafür gewährte er ihnen Lohn und Logis. Auf Portugal übertragen heißt das, dass eine handvoll Familien und natürlich die Generäle die Elite des Landes bilden. Und selbstverständlich herrschte im ganzen Land Pressezensur und die Geheimpolizei. Da zudem die Elite darauf bedacht war sich möglichst fern von Europa zu halten, kamen kaum Neuerungen ins Land. So blieb die Industrialisierung, der Tourismus und vor allem Bildung auf dem Stand von vor dem Zweiten Weltkrieg.

Portugal und seine zurückhaltenden, aber herzlichen Menschen sind mir in diesem Urlaub ans Herz gewachsen. Über all die Jahre hinweg verfolge ich die politische und gesellschaftliche Entwicklung des Landes aufmerksam. Besonders trifft mich die aktuelle Lage der jungen Portugiesen, die auf der Suche nach Arbeit in Scharen das Land in Richtung Südliches Afrika, Brasilien oder nach den USA oder Australien verlassen. Und natürlich die der Rentner. Sie sind es, die in der Diktatur aufgewachsen sind und diese zu Fall gebracht haben. Sie haben die Last der ökonomischen Aufholjagd aus den Zeiten der rückständigen Diktatur hin zu dem europäischen Markt ohne Murren mitgetragen. Und nun werden ihre ohnehin kargen Renten im Zuge des Sparhaushaltes gekürzt. Da die Familie neben den staatlichen Wohlfahrtsleistungen die Stütze weiter Teile der portugiesischen Gesellschaft ist, stellt sich somit die Frage, wie lange diese Rosskur noch aufrecht erhalten werden kann und vor allem aber, wohin sie Portugal noch führen wird?

Ich für meinen Teil werde mir das Lied der portugiesischen Revolution „Grandola, villa Morena“ heute noch das ein oder andere Mal auf die Ohren geben. Dabei werde ich zum einen meine Erinnerungen an die unzähligen Erlebnisse während meines Sommerurlaubes 1974 auffrischen können. Zum anderen werde ich daraus - hoffentlich – die in diesem Lied steckende Portion Kampfeslust schöpfen können, nach der ich mich zurzeit sehne.

Suche

 

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Der Selbstmord der Presse
„Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden wir vor Ort...
herrplattezumstein - 3. Jul, 19:42
Erwartungen
In diesem Jahr schenkte mir unser jüngster Sohn die...
herrplattezumstein - 2. Dez, 20:49
Hätte, wenn und aber...
Hallo Schlafmütze, jetzt bin ich sehr gerührt. Vielen...
herrplattezumstein - 21. Okt, 12:28
Eine unscheibare Dose...
Hallo Schlafmütze, auch wenn die Welt manchmal zum...
herrplattezumstein - 21. Okt, 12:18
Hallo HerrPlattezumStein
Wo hast du denn das Video ausgegraben? *lach* Was...
schlafmuetze - 14. Okt, 21:43

Links

Status

Online seit 5352 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 3. Jul, 19:44

Credits


Abseits
Auswärts
Ballaballa
Einwurf
Männerwelten
Tagwerk
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren