Zeitreise

Neulich beim Discounter. In aller Eile stürme ich mit meinem Einkaufszettel durch die Regalreihen. Kurz vor der Kasse fällt mir ein, dass ich doch glatt die leckeren Haferkekse vergessen habe. Also wieder ganz zurück in Richtung Eingang.

Verflixt, wo sind die nun wieder hingeraten? Wie ich mit meinen Augen ganz nervös das Süßwarenregal in ganzer Länge, von oben nach unten und von links nach rechts abgrase, bleibe ich mit meinen Blicken urplötzlich an einem bunten Farbklecks hängen. Er gehört zu einer älteren Kundin, die am Boden kniet. Aufmerksam studiert sie dort eine Verpackung und wendet sie mehrmals in ihren Händen.

Die alte Frau trägt ein Kopftuch, das ganz von den Farben Rot und Gelb beherrscht wird. Die Ränder des baumwollenen Tuches sind in einem breiten, dunkelroten Ton gehalten, der von einem schmalen gelben Farbband abgelöst wird. In einem Beet aus Hellrot liegen darin gelbe Rosen mit grünen Blättern gebettet. Was für eine Ladung geballter Farbe auf dem Kopf der Frau.

Langsam nähere ich mich ihr. Sie trägt einen dunkelbraunen Wollmantel und schwarze halbhohe Stiefeletten. Neugierig frage ich, ob ich ihr helfen könne. Vollkommen überrascht blickt die Angesprochene auf und verneint lächelnd. Kurze Zeit danach richtet sie sich auf, packt eine Tüte Eukalyptusbonbons in ihren Einkaufswagen und verschwindet mit gebeugtem Gang um die nächste Ecke.

Irritiert bleibe ich stehen und rufe mir das Gesicht der Frau in die Erinnerung zurück. Das Einzige, was ich mir innerhalb der wenigen Sekunden merken konnte, waren ihre dunklen Augen, die silbernen Haare, die an den Rändern ihres Kopftuches hervorschimmerten und ihre gepflegte, leicht gerötete Gesichtshaut.

Irgend etwas an dieser Frau mit diesem Kopftuch lässt mich nicht mehr los. Kurz vor der Kasse, die Frau ist von der Bildfläche verschwunden, dämmert es mir plötzlich. Sie erinnert mich an eine Haushaltshilfe meiner Eltern. Sie war damals, es war Mitte der Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, um die sechzig Jahre alt. Unter der Woche kam sie immer in der Frühe gegen 7 Uhr 30 und ging nach dem gemeinsamen Mittagessen gegen 14 Uhr wieder nach Hause. Immer trug sie ein dunkles Kopftuch. Mal war es schwarz, mal dunkelblau oder dunkelgrau. Mal war es einfarbig und mal waren dezente Ornamente in grauen oder weißen Tönen darin eingearbeitet. Aber niemals legte sie ihr Kopftuch während der Arbeit ab. Auch nicht beim Essen.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich sie einmal auf ihren Kopfschmuck ansprach. Sie lächelte – wie immer – ihr gütiges Lächeln, wenn ich sie mit Fragen löcherte, auf die sie nicht gefasst war oder die sie nicht so richtig beantworten wollte. Jedenfalls erwiderte sie mir, dass sie es von klein auf nicht anders kenne. Es gehöre zu ihr, wie meine Fragen zu mir. Diese Antwort forderte natürlich meine nächste Frage heraus, die auch prompt kam. „Waren die Kopftücher bei euch zu Hause immer so dunkel?“ Sie schmunzelte wieder. „Nein! Bei uns zu Hause trugen die Mädchen bis zu ihrer Hochzeit weiße Tücher, dann wechselten die Farben. Über Gelb und Rot für die jungen und reiferen Frauen bis hin zu den gedeckten, dunklen Farben für die Omas!“ Und dann – daran erinnere ich mich heute – tat sie etwas sehr Ungewohntes. Sie unterbrach ihre Arbeit, legte das Geschirrtuch zur Seite, setzte sich und forderte mich auf neben ihr Platz zu nehmen.

Auf einmal sprudelte es aus ihr heraus. Sie erzählte mir, dass in die meisten Tücher Blumenmotive eingearbeitet waren. Sehr beliebt bei den Frauen in ihrer Heimat waren rote Rosen, die in den unterschiedlichsten Größen und Variationen zu sehen waren. Aber immer konnte man an der Farbe der Kopftücher, deren Stoffqualität und der Art und Weise, wie das Kopftuch geknüpft wurde, erkennen, wie alt die Trägerin des Tuches ungefähr war und welchen Status sie im Dorf hatte. Klar, dass ich nun fragte, wo ihre Heimat denn sei.

Sie lachte wieder ihr breites, herzensgute Lächeln und hob ihre Hände. „Wir kommen von weit, weit her. Aus der Batschka“. Nun erfuhr ich von ihr zum ersten und einzigen Mal Einzelheiten aus ihrem Leben. Wie sie in ihrer Familie, einer Bauernfamilie, in der heutigen serbischen Provinz Vojvodina aufwuchs. Wie sie ihren Mann, einen kleinen Angestellten in einem deutschen Handelskontor in der nächstgelegenen Kreisstadt, kennenlernte und ihn schließlich heiratete. Wie ihre beiden Familien, wie alle deutschstämmigen Familien auch, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der Staatsmacht des neu entstandenen Staates Jugoslawien drangsaliert, unbarmherzig in großen Massenlagern wie Vieh auf engstem Raum zusammengepfercht, interniert wurden und 1947 nach dem Westteil Deutschlands auswandern konnten. Doch damit nicht genug. Kaum in Deutschland angekommen, führte die Odyssee ihre Familie, wie die zahlreicher anderer Familien aus der Batschka auch, weiter über den Hamburger Hafen nach Sao Paulo.

Dort im Hafen der brasilianischen Metropole angelandet, setzten sie über auf kleinere Flussdampfer. Diese brachten die Neuankömmlinge auf dem rund 1.100 Kilometer langen Rio Tietê entlang in Richtung des noch mächtigeren Stromes Paraná. Ob ihre Reise nun stromabwärts in Richtung Paraguay oder stromaufwärts ins Landesinnere führte, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall grub sich in mein Hirn die bittere Bemerkung ein, dass die Flüsse wohl das Schicksal ihrer Familie bestimmen. Denn sowohl ihre Großeltern und als auch die ihres Mannes verließen Deutschland auf Schiffen in Richtung eines fremden, vollkommen unbekannten Landes. Mit dem Ziel sich dort, in der zum Teil unwirtlichen Batschka, eine neue Existenz als Siedler aufzubauen.

Als die Gruppe um die Familie unserer Haushaltshilfe ihr neues Siedlungsgebiet irgendwo in den Weiten Brasiliens erreichte, fingen sie mit Gottvertrauen und ihren verbrieften Bodenrechte in der Tasche sofort an das ihnen zugewiesene Land urbar zu machen. Ich höre jetzt noch ihr spitzes Lachen, das manchmal wie das Meckern einer Ziege klang, als sie, zu mir gewandt, meinte: „Was sollten wir denn anderes machen? Wir haben doch unsere alte Heimat verloren!“.

So wurde nicht geklagt und in die Hände gespuckt. Nichts und niemand konnte sie davon abhalten. Weder die zahlreichen Krankheiten noch die ansässigen Indianer samt brasilianischen Soldaten, die allesamt misstrauisch die Siedler aus der Batschka beobachteten, konnten die Neusiedler in ihrem Eifer stoppen. Als dann nach und nach die Ernten besser ausfielen begann dann der Ärger. Schließlich seien von dem brasilianischen Militär immer mehr Neusiedler von ihrem ursprünglich vertraglich zugesicherten Land vertrieben worden. Die Luft am Paraná wurde für die deutschstämmigen Siedler immer dünner und so kratzte die Familie unserer Haushaltshilfe ihre letzten Groschen für die Überfahrt in die Bundesrepublik zusammen.

Was hat die Geschichte einer alten Frau aus der Batschka mit meiner Einkaufstour zu tun? Nun, sie zeigt mir, dass Erinnerungen, so tief sie auch in meinem Inneren vergraben sind, niemals untergehen. Einmal mit meinen Sinnen aufgenommen, leben und atmen sie den Schlaf der Gerechten irgendwo in meinem Körper. Wo, in welcher Stelle - in meinem Herzen, meinem kleinen Hirn oder in den Beinen ist dabei unerheblich. Ein kleines Detail aus der Jetztzeit genügt und schon wird der entscheidende Funken im Inneren gezündet.

Bei mir war es das Kopftuch. Und schon sehe und höre ich nach über vierzig Jahren unsere gute, alte Haushaltshilfe wieder vor mir. Ihre silbernen Strähnen, die immer unter ihren Kopftüchern neugierig hervorschauten, ihre braunen Augen und ihre zarte, von Wind und Wetter gegerbte Gesichtshaut. Sollte die gütige Frau aus irgendeinem unerfindlichen Grund diese Zeilen an einem himmlischen Computer lesen können, dann wird sie jetzt lächeln und mit ihrem leichten Meckern in der Stimme meinen Namen rufen.

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