Zwei Seiten der Medaille

Wetterkapriolen, wie der Eisregen vergangener Woche, werfen alles über den Haufen. Aber sie haben auch ihre guten Seiten. Denn plötzlich habe ich Zeit mich um meine Schätze in den diversen Schubladen zu kümmern. So stoße ich schon nach kurzer Zeit auf einen mittlerweile angegilbten Zeitungsbericht aus dem Frühjahr 1992.

Dieser kleine Reisebericht verleitete mich damals von New York kommend einen Schlenker auf meinem Weg in Richtung der kanadischen Grenze nach Tanglewood einzulegen. Dieser unscheinbar klingende Flecken Erde liegt unweit der Interstate 90, dem so genannten Massachusetts Turnpike, der von Albany, im Bundesstaat New York, nach Boston, Massachusetts, führt.

Tanglewood ist ein kleines Hofgut im westlichen Massachusetts an der Grenze zum Bundesstaat New York. Bekannt ist es Musikliebhabern aus aller Welt, weil hier jedes Jahr zwischen Ende Juni und Anfang September eines der bekanntesten Musikfestivals der USA stattfindet. Untrennbar verbunden ist das Festival Tanglewood dabei mit dem Boston Symphony Orchestra, das hier seit 1937 alljährlich sein Sommerdomizil aufschlägt. Dabei gibt das Boston Symphony Orchestra während des Sommers hier in den bewaldeten Hügeln nicht nur öffentliche Konzerte, sondern es lädt auch die Größen aus der Welt der Klassik hierher ein, damit junge, talentierte Musiker aus aller Welt die Möglichkeit haben sich gemeinsam mit ihnen in Workshops und auf öffentlichen Auftritten musikalisch fortzubilden. Aber das Festival nur in einem Atemzug mit der Klassik zu verbinden, wäre nur ein Teil des Festivals. Denn hier treten in jedem Jahr auch Stars aus der Popmusik und Jazz auf.

Als ich zum ersten Mal den kleinen Reisebericht in der Zeitung las, wusste ich, dass ich da unbedingt hin wollte. Dass dies schneller kam, als ich zu hoffen wagte, ist mit der Einladung zur Hochzeit eines mir wichtigen Menschen zu erklären. Unter dem Strich ist dieser Einschub lediglich eine freudige Begleiterscheinung. Aber er erklärt die freudige Stimmung in der ich mich befand, als ich von New York kommend über das rund 250 Kilometer entfernte Albany schließlich über die Landstraße nach Tanglewood einfuhr. Und wie es sich für einen Autonarren wie mich gehört natürlich nicht in einem Kleinwagen, sondern in einem - für deutsche Verhältnisse – Straßenkreuzer. Einem niegel nagelneuen metallic-ockerfarbenen Buick LeSabre mit allem Schnickschnack.

Obwohl die Stammgäste in Tanglewood schon monatelang vorausbestellen, bekommt man eigentlich immer ein Zimmer. Dies gilt auch für Konzertkarten. Denn die Konzerthalle ist riesengroß. Und wer bereit ist, der Musik inmitten der gepflegten Parklandschaft unter freien Himmel zu lauschen, für den ist der Eintritt für ein paar Dollar zu haben. Hier stört sich niemand, wenn mann und frau samt Kinderschar sich ihre Klappstühle mitbringen, ihre Picknickkörbe auspacken und sich des Abends in ihre Kuscheldecken einmummeln. Ein für meine damaligen Augen ungewohntes konzertantes Treiben auf dem Rasen.

Verliebte Pärchen, junge und alte, stecken unter einer Decke, lauschen völlig losgelöst im Hier und Jetzt, während nebenan wildfremde Gruppen fröhlich ihr Picknick machen. Wobei auch hier sich niemand an irgendwelche Regeln zu halten scheint. Während die einen regelrecht tafeln, mit Kaviar und Champagner, packen die anderen ihre belegten Käse- und Wurstsandwiches samt Cola aus. Aber niemand käme hier auf die Idee seinen Grill auszupacken und ein paar Steaks darauf zu grillen. Oder, wie im Berliner Tiergarten, seinen Hammel überm Feuer zu rösten. Das ginge dann doch zu weit.

Musik liegt in Tanglewood den ganzen Tag in der Luft. Man kann morgens den Proben beiwohnen und nachmittags und abends den Konzerten lauschen. Wobei es mir hier bei meinem Kurzaufenthalt besondere Freude machte mitzuerleben, wie morgens die Musiker samt Dirigenten im T-Shirt oder weit geöffnetem Hemd an jedem Ton feilten und wie sie abends im Smoking zu einem harmonischen Ganzen verwuchsen.

Gewiß gibt es hierzulande seit Justus Frantz und dem seit 1986 stattfindendem Schleswig-Holstein Musikfestival auch ähnliche Festivals mit Sommerakademiecharakter in Deutschland. Aber eine solch entspannte, kreative Stimmung, die ich damals in Tanglewood angetroffen habe, habe ich seitdem nie mehr erleben dürfen. Noch oft denke ich an die Aufführung des romantischen Liederzyklus: "Die schöne Müllerin" von Franz Schubert.

Jetzt wird der ein oder andere schmunzeln und meinen: Eine romantische Schmonzette! Na ja, in Teilen. Aber seit Tanglewood erlebe ich das Lied: „Das Wandern ist des Müllers Lust“ losgelöst von eigenen Bildern braver Wandersleute. In Knickerbocker und Knobelbecher steckend, mit einem Wanderstock bewaffnet und einem Ränzlein auf dem Buckel. Seit diesem Besuch habe ich beim Wandern auch keine Hemmungen mehr dieses Lied zu trällern. Ob alleine oder in einer Gruppe, denn das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust. Es ist Bewegung an der frischen Luft, die auch mein bisschen Hirn beflügelt.



So freue ich mich auf das heranziehende Frühjahr und auf so manchen Ausflug durch die Botanik – allein, mit meiner Familie oder einem Kumpel. Auf Schusters Rappen.

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